In einem TV-Interview sagte eine junge Ukrainerin am Tag 1 nach dem russischen Einmarsch: „Wir müssen uns jetzt auf das Schlimmste vorbereiten, aber auf das Beste hoffen.“
„Wir haben es alle kommen sehen und waren nicht in der Lage, mit unseren Argumenten durchzudringen, die Folgerungen aus der Krim-Annexion zu ziehen und umzusetzen“, schrieb der Inspekteur des Deutschen Heeres in einem Social Media Posting. „Das fühlt sich nicht gut an! Ich bin angefressen!“ Warum ist Generalleutnant Alfons Mais so empört? „Die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da.“
Mit der gleichen Botschaft war General Robert Brieger im März 2019 an die Öffentlichkeit getreten. In seinem Appell zur effektiven Landesverteidigung führte er aus: „Als Chef des Generalstabes erachte ich es als meine Pflicht, eine realistische Einschätzung über die Situation des Bundesheeres sowie dessen absehbare Entwicklung unter Zugrundelegung der budgetären Rahmenbedingungen vorzunehmen. Das Ergebnis ist sehr klar: Das Bundesheer hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten von der eigenständigen Fähigkeit zur Landesverteidigung dramatisch entfernt.“
Im Herbst 2019 wurde ein Zustandsbericht des ÖBH verfasst, der bereits in der Einleitung feststellt: „Den zunehmenden Bedrohungen steht derzeit ein Bundesheer gegenüber, das seine verfassungsmäßigen Aufgaben zum Schutz Österreichs mangels ausreichender Finanzierung und Ausbildungszeit nicht erfüllen kann. (…) Ohne entsprechende Maßnahmen drohen Österreich erhebliche politische und militärische Risiken: Schutzlosigkeit gegenüber den zu erwartenden Bedrohungen (…), Gefährdung der österreichischen Soldaten durch mangelnde Ausbildung und Ausrüstung, Verlust der Fähigkeit zur Teilnahme an internationalen Friedens- und Stabilisierungseinsätzen, Nichterfüllung der verfassungsmäßig festgeschriebenen Neutralitätsverpflichtungen – auch durch mangelnde Befähigung zur Sicherung des österreichischen Luftraumes. (…)“
Si vis pacem para bellum – wenn du den Frieden willst, bereite dich auf den Krieg vor
In Österreich wurde lange eine Vorwarnzeit von etwa 10 Jahren diskutiert, mit der sich das Bundesheer auf eine konventionelle Bedrohung würde vorbereiten können. Wenn wir die Geschichte von hinten lesen, wissen wir jetzt, dass diese Vorwarnzeit bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 zu laufen begann. Es war der erste Auftritt eines russischen Staatspräsidenten auf der Sicherheitskonferenz. Putin ließ es damals an Deutlichkeit nicht mangeln und hielt eine „Schockrede“. In dieser warf er den USA das Streben zur „monopolaren Weltherrschaft“ vor, warnte die Nato vor „ungezügelter Militäranwendung“ und kritisierte die Nato-Osterweiterung massiv, weil deren militärische Infrastruktur dadurch „bis an unsere Grenzen“ heranreiche. Und er sprach von „roten Linien“, deren Überschreitung nicht akzeptiert würde.
Was er damit meinte, zeigte Russland 2008 in Georgien, 2014 auf der Krim und danach im Osten der Ukraine. Seit 24. Februar 2022 wissen wir endgültig, dass Wladimir Putin bereit ist, seinen Worten Taten folgen zu lassen. Dabei ist völlig klar, dass diese Taten das Völkerrecht brechen und entschieden verurteilt werden müssen. Im Gegensatz zu anderen Politikern, die es bei Ankündigungen belassen und meinen, dass Deklarationen und Sonntagsreden bereits Wirkung erzielen, ist er ein Ex-KGB-Offizier, der alle Instrumente der Macht gezielt und strategisch einsetzt. Ihn nun für verrückt zu erklären, soll wohl die Mängel bei der eigenen Lagebeurteilung kaschieren. Putin handelt nach einem Plan, den er bereits seit Jahren verfolgt und auf offener Bühne angekündigt hat. Er ist ein Überzeugungstäter. Er befindet sich auf einem Kreuzzug für seine Vorstellung von Russland.
Wir – und damit meine ich den marktwirtschaftlichen Westen – müssen uns den Vorwurf gefallen lassen, dass wir nur für rational halten, was gut für das Geschäft und den Wohlstand ist. Aus dieser Sicht ist der Krieg und sind die damit verbundenen Sanktionen und wirtschaftlichen Nachteile verrückt. Doch wer seine Prinzipien über kurzfristigen Nutzen stellt, ist mit anderen Maßstäben zu messen. Daher sollten wir auch Putins Bereitschaft, als Märtyrer in die Geschichte einzugehen, ins Kalkül ziehen.
Erste Erkenntnisse – dieser Beitrag entsteht am Tag 3 der Invasion – kann man bereits ziehen:
- Geopolitik wird auf allen Ebenen gemacht. Militär, Wirtschaft, Diplomatie, Kultur und Medien können nicht isoliert betrachtet werden. Die Androhung oder der Einsatz militärischer Kräfte war und ist ein reales Mittel, um ein politisches Ziel zu verfolgen. Friedliche Koexistenz ist die Ausnahme und nicht die Regel der Geopolitik. Darüber dürfen wir uns dreißig Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr länger hinwegtäuschen.
- Der hybride Krieg findet seit Jahren ständig – und nicht nur in und um die Ukraine – statt. Psychologische Kriegsführung und der Kampf im Informationsraum sind Teil dieser Kriegsführung. Die Stimmungsmache, die Schwarz-Weiß-Malerei und die Narrative, dass immer nur die Gegenseite verantwortlich für die Eskalation wäre, sind Teil dieser PsyOps.
Naivität und Wokeness
Sei wach, richte über andere, und fühle dich gut dabei – das ist das Credo einer neuen Political Correctness. Das Gabler Wirtschaftslexikon erklärt das Modewort Wokeness: Wokeness ist die Haltung und Bewegung der Wachheit und Wachsamkeit. Man verfolgt aufmerksam das Geschehen in der Welt und will Antisemitismus, Rassismus, Sexismus, Gewalt, Umweltzerstörung, Massentierhaltung und andere Übel daraus entfernen, indem man seine Stimme erhebt, in den Massenmedien und in den sozialen Medien, auf der Straße und auf den Plätzen, in Schulen, Hochschulen und Unternehmen.
Eine Form von Wokeness ist, das Militär aus dem öffentlichen Raum zu verbannen. Sei es durch die Empörung über eine Uniform bei einer Pressekonferenz, sei es durch die Verdammung eines Personalsuchinserats eines großen Logistikkonzerns, der militärische Erfahrung als Vorteil bei der Bewerbung anpreist. Auch die Ignoranz, dass Panzer, Kampfjets und andere schwere Waffen zur „Show of Force“ gehören, zählt zu dieser Form der Realitätskonstruktion.
Österreich hat eine besondere Ausprägung der woken Naivität. Wir verstehen uns als kleines und neutrales Land, das beim Konzert der Großen bestenfalls als Gastgeber von Friedensgesprächen eine Rolle spielt. Und irgendwie vermitteln wir die illusionäre Haltung, dass wenn alle so wären wie wir, es keine Konflikte gäbe. Und im Besitz dieser Wahrheit können wir mit dem Finger – je nach Vorliebe – auf die USA oder Russland zeigen. Und jedenfalls können wir der EU sicherheitspolitisches Versagen vorwerfen. Dabei sehen wir den Splitter im fremden Auge, aber nicht den Balken im eigenen.
Tu felix Austria
Österreich liegt innerhalb der EU-27 bezüglich seiner Einwohnerzahl im Mittelfeld und seiner wirtschaftlichen Leistung (BIP pro Kopf, 2020) im Spitzenfeld – sogar einen Platz vor Deutschland. Allerdings liegen wir mit den Verteidigungsausgaben am Ende der Tabelle. Das bedeutet: Österreich ist nicht klein und lieb. Aber es ist reich und schwach. Das ist eine gefährliche Positionierung, wenn es Kräfte gibt, die Schwäche als Einladung und nicht als Tugend ansehen.
Vergleichbare Länder wie Schweden und Finnland investieren massiv in die Aufrüstung ihrer Streitkräfte. In Österreich werden die Militärausgaben nach dem gültigen Budgetplan in absoluten Zahlen in den nächsten Jahren stagnieren und daher durch die hohe Inflation sogar an Wert verlieren.
Wir sollten die Brille der Naivität abnehmen und angesichts der aktuellen Entwicklungen eine Neubeurteilung unserer Verteidigungspolitik vornehmen, meint
Mag. Erich Cibulka, Brigadier
Präsident der Österreichischen Offiziersgesellschaft
Dieser Brief des Präsidenten wurde im „Offizier 1/2022“ veröffentlicht. Die elektronische Version des Offizier finden sie hier zum Download und hier zum Blättern!