Brief des Präsidenten – Über die Zeitenwende Wehr- und Sicherheitspolitisches Bulletin Nr. 5/6/22

Weitgehend einhellig ist die Auffassung, dass der Krieg Russlands gegen die Ukraine die Geopolitik und die europäische Sicherheitspolitik für viele Jahre beeinflussen wird. Ähnlich wie der Mauerfall in Berlin am 9. November 1989 zu einer jahrzehntelangen Friedensperiode führte, hat nun der 24. Februar 2022 eine neue politische Eiszeit eingeläutet.

Die Zeitenwende macht auch vor Österreich nicht halt. Dabei ist dem Bundeskanzler bereits Anfang März ein beachtliches Agenda-Setting gelungen: „Österreich war neutral, Österreich ist neutral, Österreich wird auch neutral bleiben. Für meinen Teil ist damit die Diskussion beendet“, könnte zum Zitat des Jahres werden. Nach einer Schrecksekunde hat diese Diskussion fast justament doch begonnen.

In einem offenen Brief haben knapp 50 prominente Personen eine ergebnisoffene Diskussion eingefordert. Und während die Ansicht des Kanzlers in der Bevölkerung Zustimmungsraten von etwa 80 % erzielt, können die Prominenten auf die Unterstützung der Medienvertreter zählen, die die Neutralitäts- versus NATO-Debatte von einem Leitartikel zur nächsten Diskussionsrunde – quotenwirksam – ausschlachten.

Das Hütchenspiel beim Bundesheerbudget

Die Faszination von Zaubertricks liegt darin, dass die Aufmerksamkeit der Zuseher abgelenkt wird, um ihre „Magie“ entfalten zu können. Könnte es sein, dass die Neutralitätsdebatte auch ein Ablenkungsmanöver ist? Doch wovon?

Am 24. März 2022 berichteten die Medien, dass Verteidigungsministerin Tanner gegenüber den Wehrsprechern der Parteien eine langfristige Erhöhung des Wehrbudgets von 0,6 % des BIP auf 1,5 % des BIP (gültig ab 2027 – also in der nächsten Legislaturperiode) in Aussicht gestellt hat. Selbst eine Verankerung im Verfassungsrang stünde zur Debatte. Zusätzlich soll ein 10 Milliarden Euro schwerer „Neutralitätsfonds“ für die nächsten Jahre dotiert werden, um den Investitionsrückstau der letzten Jahrzehnte abzubauen. Mit diesem Geldregen könnten modernere Kampfpanzer, Drohnen und sogar neue Jets beschafft werden.

Sofort reagierte der Dachverband der wehrpolitischen Vereine, die Plattform Wehrhaftes Österreich, mit einer Presseaussendung und erinnerte, dass sicherheitspolitisches Wunschdenken die letzten Jahrzehnte bestimmt hat. Das habe zum Einsturz der vier Säulen der „Umfassenden Landesverteidigung“ als Sicherheitskonzept für Österreich geführt. Die erzielte Friedensdividende komme Österreich nun mit niedrigem Wehrwillen und weitgehend verlorener Wehrfähigkeit teuer zu stehen. Deshalb werden Taten statt Worte gefordert, und es wird an alle Abgeordneten im Parlament appelliert, das Wohl des Landes ins Zentrum der Überlegungen zu stellen und parteipolitische und ideologische Hürden zu überwinden.

In den Abendstunden desselben Tages wurde unter Tagungsordnungspunkt 31 der 149. Sitzung des Nationalrates innerhalb von zwei Minuten beschlossen:

  • Entschließungsantrag der FPÖ für ein Sonderinvestitionspaket des ÖBH und Anhebung des Regelbudgets des ÖBH auf 1 % des BIP: abgelehnt
  • Entschließungsantrag von FPÖ und NEOS zur Schaffung eines Streitkräfteentwicklungsgesetzes: abgelehnt
  • Entschließungsantrag der SPÖ zur Stärkung des ÖBH, insbesondere der Miliz: abgelehnt
  • Entschließungsantrag der FPÖ zur Überarbeitung der Österreichischen Sicherheitsstrategie: abgelehnt

Lediglich der Antrag, Gebäude des Bundesheers mit Fotovoltaikanlagen auszustatten, wird einstimmig angenommen.

Am 27. April 2022 beschließt der Ministerrat und am 18. Mai 2022 das Parlament eine Budgetnovelle, da die finanziellen Auswirkungen des Ukrainekriegs und der EU-Sanktionen gegen Russland eine Änderung des Bundesfinanzgesetzes 2022 und des Bundesfinanzrahmengesetzes erforderlich machen. Damit will die Regierung für die Sicherstellung einer nationalen strategischen Gasreserve, das Energieentlastungspaket sowie für die Hilfsmaßnahmen für vertriebene Ukrainer budgetäre Vorsorge in Milliardenhöhe treffen. FPÖ und SPÖ brachten einen Abänderungsantrag zu Anpassungen im Finanzrahmen ein. Die Obergrenzen für Militärausgaben sollen demnach von 3 Milliarden Euro 2022 schrittweise auf 5 Milliarden im Jahr 2025 angehoben werden. Investitionen ins Bundesheer seien dringend notwendig, um den Schutz der Bevölkerung gewährleisten zu können und das Bundesheer zu stärken. Der Antrag fand jedoch nicht die erforderliche Zustimmung.

Das Hütchenspiel bei den verpflichtenden Übungen

Am 10. März 2022 verkündete die Verteidigungsministerin, dass die Wiedereinführung der verpflichtenden Milizübungen ernsthaft geprüft werde. Zur Debatte stünden zwei Monate Übungen nach Ablauf des sechsmonatigen Grundwehrdienstes.

In einer Presseaussendung am 11. März erklärte die ÖOG dazu: „Die Allgemeine Wehrpflicht bedeutet Grundwehrdienst und anschließende Milizverwendung. Das in der Verfassung verankerte Milizsystem versteht den Soldaten als ‚Bürger in Uniform‘, der für seine ideellen und materiellen Werte eintritt, und es sichert die Truppenstärke und damit die Durchhaltefähigkeit des Bundesheers bei großen Bedrohungen. Diese Quantität braucht auch eine Qualität, die nur durch regelmäßige Truppenübungen erreichbar ist. Wir haben jetzt gerade gesehen, dass Vorwarnzeiten ein Wunschtraum sind. Deshalb muss die Miliz aus dem Stand und nicht erst nach lang dauernder Einsatzvorbereitung aufbietbar sein. Es ist daher indiskutabel, dass sogenannte befristetbeorderte Milizsoldaten nicht einmal über eine Uniform und persönliche Ausrüstung verfügen.“

In einem „Presse“-Interview am 23. April 2022 erklärte Ministerin Tanner die Prüfung für abgeschlossen. Sie wolle nicht zu verpflichtenden Übungen zurückkehren, bekenne sich zur Freiwilligkeit und wolle die Anreizsysteme verbessern. Eine Verlängerung von Wehrdienst – und Zivildienst – sehe sie derzeit nicht.

Der Obmann der Interessengemeinschaft der Berufsoffiziere, Oberst Siegfried Albel, bezeichnete die Aussagen der Ministerin als „falsches Signal“. Die ÖOG erklärte in einer Presseaussendung: „Die nunmehr durch die Verteidigungsministerin erfolgte Absage dieser wichtigen Maßnahme konterkariert alle Beteuerungen, dass die Landesverteidigung in Österreich wieder ernst genommen wird. Österreich ist und bleibt ein Trittbrettfahrer kollektiver Sicherheitsstrukturen und leistet selbst nur einen lächerlichen Beitrag für den Schutz des Landes.“ Außerdem wurde darauf hingewiesen, dass im aktuellen Regierungsprogramm die Wiederherstellung des verfassungsmäßigen Zustands des Österreichischen Bundesheers nach den Grundsätzen eines Milizsystems (Art. 79 (1) BVG) angekündigt wird.

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Angesichts der innenpolitischen Entwicklungen der letzten Monate kann der Eindruck entstehen, dass das Bundesheer wieder nicht aus seinem Dornröschenschlaf erweckt wird. Zwar spricht sich die Mehrheit der Bevölkerung für eine Erhöhung der Ausgaben für Landesverteidigung aus und wünscht eine verstärkte Ausrichtung darauf, Angriffe auf Österreich abwehren zu können. Doch davon ist (noch) nichts zu bemerken – weder materiell noch personell. Die Forderungen der ÖOG aus dem Positionspapier 2017 haben daher bisher nichts an Gültigkeit verloren. Die Rückkehr zum 6+2-Modell und 1 % des BIP als Budget scheinen noch immer unerreichbar. Es gibt aber auch Hinweise, dass hinter den Kulissen intensiv an großen Lösungen gearbeitet wird. Das wäre dringend zu hoffen. Denn eines muss klar sein: Egal, ob sich Österreich als neutral, bündnisfrei oder europäisch solidarisch bezeichnet, es muss über eine militärische Stärke verfügen, die dem jeweiligen sicherheitspolitischen Konzept entspricht. Das Bundesheer als leicht bewaffnete Feuerwehr oder technisches Hilfswerk in einem Konzept der „unbewaffneten Neutralität“ ist dabei keine Option.

Mag. Erich Cibulka, Brigadier
Präsident der Österreichischen Offiziersgesellschaft 

Dieser Brief des Präsidenten wurde im „Offizier 2/2022“ veröffentlicht. Die elektronische Version des Offizier finden sie hier zum Download und hier zum Blättern!

Powered by Martin HEINRICH