Der Wächter 4/2022 – Sicherheitspolitisches Verständnis mit dem großen Löffel

Wehr- und Sicherheitspolitisches Bulletin Nr. 12/12/22

In Gruppen zu diskutieren, ist wieder spannend geworden, auch wenn es fallweise depressiv endet. Wieder ziehen sich Trennlinien durch Familien, den Freundeskreis oder zwischen Arbeitskollegen, Trennlinien, die gekennzeichnet sind von mangelndem Wissen und staatspolitischem Unverständnis, von der Intoleranz gegenüber anderen Meinungen und der prinzipiellen Opposition gegenüber Obrigkeit. Waren es bisher die Impf- oder die Maskenpflicht, die entzweite, ist es jetzt die Frage, ob die Ukraine in ihrem Überlebenskampf unterstützt werden soll oder Putin ohnehin im Recht sei und der Westen durch seine Waffenlieferungen nur den Krieg verlängert.

Beide Themen, sowohl das Covid-Thema als auch die Frage des Ukrainekriegs, können mit derartiger Inbrunst, ja fast latenter Neigung zu Gewalt diskutiert werden, dass einem angst und bange werden kann. Differenzierte Meinungen werden oft gar nicht mehr wahrgenommen. Interessant ist eine oft überraschende Übereinstimmung von zwei Ansichten in der gleichen Gruppe von Menschen: Viele von jenen, die der Ansicht sind, dass Corona keinerlei Maßnahmen der Regierung gerechtfertigt habe, sind auch der Ansicht, dass die Ukraine, die USA und die NATO den Krieg provoziert hätten und Russland unschuldig sei. Bei Nachfrage, ob also eine Provokation die Rechtfertigung sein könne für einen Einmarsch Russlands in der Ukraine, für das Verursachen von unendlichem Leid an der russischen und der ukrainischen Bevölkerung, die Zerstörung überlebenswichtiger Infrastruktur, die Ermordung von Zivilisten und die Infragestellung der Existenz der Ukraine, gibt es zwar eine gewisse Argumentationsnot, die aber meist durch Forschheit und argumentativem Beharrungsvermögen überwunden wird. Wenn man dann noch wissen will, ob sich denn ein Land, dass angegriffen wird und um sein Überleben kämpft, auch verteidigen dürfe, werden die Antworten noch diffuser. Versucht man daraufhin anhand des Beispiels der eigenen Heimat Klarheit zu gewinnen, fragt also, ob sich die diskutierende Person verteidigen wolle, wenn Österreich angegriffen würde, wird es obszön. Denn die erhellende Antwort lautet: Wir haben ja eh keine Chance. Diese Feststellung, die in jedem anderen Staat zur Forderung der Erhöhung der Verteidigungsfähigkeit oder einem Bündnisbedürfnis führen würde, wird in Österreich jedoch meist als Motiv für Tatenlosigkeit und Festhalten an der uns nicht schützenden Neutralität verwendet. Ist solch aufflammendes Pseudo-Expertentum beim Fußball oder Schifahren noch unter amüsant einzuordnen, wird es bei sicherheitspolitischen Themen schon etwas bedenklicher. Besonders interessant ist es dort, wo Leute sich selbst vielleicht sogar als intellektuelle Elite sehen, deren sicherheitspolitisches Verständnis jedoch oft nicht einmal ausreicht, zu begreifen, dass z. B. das Wort Neutralität allein keinen Schutz vor Angriffen darstellt und dass es für die Sicherheitspolitik eines Landes nicht genügt, mit tiefster und innigster Überzeugung den moralischen Befreiungsschlag zu führen, der da lautet: „Ich bin gegen Krieg.“ Interessant auch, dass Leute, die ihre verteidigungspolitische Position für Österreich darauf aufbauen, dass uns ja andere zu Hilfe kommen werden, ihrerseits jegliche Hilfe für die Ukraine ablehnen. Gott sei Dank hat es bis jetzt noch jede Regierung geschafft, das völlige Absterben des Bundesheers zu verhindern. Was aber auch keine Regierung geschafft hat, ist, das sicherheitspolitische Analphabetentum gegebenenfalls in den jeweils eigenen Reihen und schon gar nicht bei großen Teilen der Bevölkerung zu beseitigen.

Wohltuend wie immer der Pragmatismus der Schweiz: Der Ukrainekrieg hat die europäische Friedensordnung erschüttert. Die Streitkräfte sind wieder stärker auf die Abschreckung und Abwehr eines militärischen Angriffs und auf den konventionellen Krieg auszurichten. Die Schweiz will die sicherheits- und verteidigungspolitische Zusammenarbeit in Europa mit der NATO und der EU verstärken und die Lücken bei den eigenen militärischen Fähigkeiten durch Erhöhung der finanziellen Mittel rascher schließen.

Dieser Wächter wurde im „Offizier 4/2022“ veröffentlicht. Die elektronische Version finden sie hier zum Download und hier zum Blättern!

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