Brief des Präsidenten – Vom Glaubenskrieg

Wehr- und Sicherheitspolitisches Bulletin Nr. 3/3/23

Als der Kalte Krieg mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion endete, prägte der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama den Begriff vom „Ende der Geschichte“. Er meinte damit, dass der Kampf zweier Ideologien um die Weltherrschaft final entschieden wäre. Das Konzept der liberalen Demokratie – der Westen – hätte sich gegen den Kommunismus – den Osten – durchgesetzt. Implizit bedeutete das auch den Sieg des Kapitalismus über die Planwirtschaft.

Money makes the world go round

Das hatte weitreichende Folgen. Einerseits konnte eine Friedensdividende durch Reduktion der Verteidigungsausgaben erzielt werden. Andererseits wurde eine Globalisierung der Wirtschaft vorangetrieben. Der steigende Wohlstand sollte jedem Erdbewohner beweisen, dass Menschenrechte, Demokratie und Rechtstaatlichkeit das Fundament für Frieden und Prosperität darstellen. Unter dem Motto „Wandel durch Handel“ sollten die unterschiedlichen Weltregionen so miteinander verzahnt werden, dass Arbeitsteilung eine Gegnerschaft verunmöglicht. Dieses Konzept war mit der „Montanunion“, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, bereits erfolgreich an der Wiege der EU gestanden. Jetzt sollte es auf den Globus erweitert werden. US-Präsident George Bush Sen. nannte dies 1990 die „Neue Weltordnung“ und beschrieb „eine Welt, in der die Herrschaft des Rechts die Herrschaft des Dschungels ersetzt. Eine Welt, in der die Völker die gemeinsame Verantwortung für Freiheit und Gerechtigkeit erkennen. Eine Welt, in der der Starke die Rechte des Schwachen respektiert.“

Culture eats strategy for breakfast

Es wurde dabei aber ausgeblendet, dass diese westlichen Ideale auf einem jahrhundertealten Fundament europäischer Kulturgeschichte aufbauen. Viele blutige (Bürger-)Kriege waren über Europa gezogen, ehe sich dieses moderne Staatsverständnis etablieren konnte. Das europäische Credo der Humanität ist eine Lehre aus den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts und damit ein sehr junges Konzept der Geopolitik. Wie dünn der zivilisatorische Anstrich ist, konnte bei den Gräueln und Kriegsverbrechen des Jugoslawischen Bürgerkriegs direkt vor unserer Haustüre gesehen werden.

Umso mehr verstehen autokratische oder totalitäre Führer das europäische Politikmodell weniger als erstrebens- und nachahmenswert, sondern eher als Ausdruck der Schwäche. Konsumismus und Wokeness als Antlitz eines naiven Pazifismus werden als Dekadenz und nicht als Vorbild gesehen.

Und so blieb die „Neue Weltordnung“ eines regelbasierten Zusammenlebens eine Utopie – oder ein Schreckgespenst für Verschwörungstheoretiker, die darunter die angestrebte Weltherrschaft einer (US-geführten) Elite verstehen. Reich und schwach zu sein, ist nach den Gesetzen des Dschungels eine Einladung an den Starken. Der Bruch des Völkerrechts und multilateraler Sicherheitsgarantien sowie die Missachtung internationaler Organisationen erscheinen dem Mächtigen als lässliche Sünden. Andere Länder – andere Sitten Von Fernreisen wissen wir, dass andere Weltregionen auch andere Kulturen entwickelt haben. Dieser Blick über den eigenen Tellerrand macht ja auch den Reiz eines Urlaubs aus. Aber nur zeitlich befristet. Meist kehrt man gerne wieder in vertraute Gefilde zurück. Afrika, die arabische oder die asiatische Welt funktionieren nach anderen Grundprinzipien. Im Wirtschaftsleben wird man mit interkulturellen Schulungen darauf vorbereitet. Doch warum meinen viele Menschen, dass in der Geopolitik nur der westliche Zugang und Standpunkt Berechtigung hat, obwohl wir in einer kulturell multipolaren Welt leben?

Putins Angriff auf die Ukraine wurde als unwahrscheinlich angesehen, da angedrohte Sanktionen wirtschaftliche Nachteile für Russland bringen würden. Das ist die Perspektive eines westlichen Homo oeconomicus, der sein Verhalten nur am finanziellen Profit ausrichtet. Motive, die außerhalb dieses Bewertungsrasters liegen, werden dann unterschätzt oder als krankhaft fehlinterpretiert.

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein

Es ist ein Bibelwort aus der Versuchungsgeschichte, das uns darauf hinweisen kann, dass eine einseitig wirtschaftliche Nützlichkeitsbetrachtung zu falschen Lagebeurteilungen führen kann. Unsere postheroische Gesellschaft tut sich schwer damit, Motive anzuerkennen, die darüber hinausgehen. Das zeigt sich auch in der Fassungslosigkeit im Umgang mit islamistischen Selbstmordattentätern, die sich heroisch – für uns verrückt – als Märtyrer in ihrem Kampf gegen die Ungläubigen opfern. Auch Russlands Angriff auf die Ukraine verwendet transzendente Motive als Begründung, wenn Putin von einem „Heiligen Krieg gegen den Satan“ spricht. Die „militärische Sonderoperation“ wird zunehmend in einen dritten patriotischen Krieg umgedeutet, der damit auf einer Höhe mit dem Kampf gegen Napoleon und gegen Hitler steht. Welche Opfer Russland damals bereit zu tragen war, sollte uns als Warnung dienen und uns vor Illusionen über ein baldiges Ende bewahren.

Und auch wir – das meint sowohl Österreich als auch die EU – müssen uns fragen, was wir bereit sind, für unsere Werte einzusetzen. Wir müssen eine Antwort darauf geben, ob wir eine Wertegemeinschaft sind, die bereit ist, nicht nur materielle, sondern auch ideelle Werte zu verteidigen. Halten wir die Menschenrechte und das Völkerrecht hoch oder arrangieren wir uns mit einem Aggressor, um keine Wohlstandsverluste hinzunehmen? Treiben wir eine Appeasement-Politik und opfern heute die Ukraine, morgen Moldawien und übermorgen das Baltikum? Oder sind wir eine wehrhafte Gesellschaft? Von den Antworten wird in der Zukunft viel abhängen.

„The Great Game“

Historisch wurde der Konflikt zwischen Großbritannien und Russland im 19. Jahrhundert um die Vorherrschaft in Zentralasien als „Das Große Spiel“ bezeichnet. Beide Länder haben ihre weltbeherrschende Rolle im 20. Jahrhundert verloren. Doch sie stehen sich auch heute im Konflikt um die Ukraine gegenüber. Wir können diese Arena als Vorstufe oder Testfall zum „Great Game“ des 21. Jahrhunderts auffassen: dem Konflikt zwischen den USA und China.

Bis 2049 soll China nach dem Willen von Staatspräsident Xi Jinping wirtschaftlich wie militärisch global führend sein. „99 Luftballons“ im US-Luftraum und Warnungen eines Luftwaffen- Generals, dass 2025 ein Krieg wegen Taiwan stattfinden würde, sind dafür möglicherweise Vorboten. Die Sicherheitsgarantien der USA für Taiwan würden bei einer chinesischen Invasion zu einem massiven Kriegsverlauf im Pazifik führen, wie eine aktuelle Studie des Center for Strategic and International Studies analysiert. Man kann also davon ausgehen, dass China seine Taiwan-Politik sehr genau danach ausrichtet, wie glaubwürdig westliche Sicherheitsgarantien sind.

Insel der Seligen

Und was hat das alles mit dem neutralen Österreich zu tun? Es wäre schön, wenn unser völkerrechtlicher Status, den man seit dem EU-Beitritt wohl eher als „bündnisfrei“ bezeichnen sollte, uns vor diesen globalen Herausforderungen schützen würde. Doch leider ist „unbewaffnete Neutralität“ weder eine Tarnkappe noch ein Schutzschild. Alle sicherheitspolitischen Analysen bestätigen, dass die Weltlage sich zunehmend verschlechtert. Als EU-Mitglied können wir uns davor nicht abkapseln, globale Entwicklungen haben unmittelbare und mittelbare Wirkungen auf Österreich. Der politische Druck auf Österreich, sich klarer zu positionieren, hat zugenommen und wird sehr rasch deutliche Antworten erfordern.

Eigentlich ist EU-Politik für Österreich Innenpolitik. Unser provinzieller Zugang wird nicht aufrechtzuerhalten sein. So wird es Zeit, der Bevölkerung reinen Wein einzuschenken. Denn in einem Land, in dem nur 21 Prozent der Bevölkerung bereit sind, dieses auch zu verteidigen, ist ein rasches Aufwachen erforderlich meint Ihr

Mag. Erich Cibulka, Brigadier
Präsident der Österreichischen Offiziersgesellschaft

Dieser Brief des Präsidenten wurde im „Offizier 1/2023“ veröffentlicht. Die elektronische Version finden sie hier zum Download und hier zum Blättern!

Powered by Martin HEINRICH