Brief des Präsidenten: Übung macht den Meister

Wehr- und Sicherheitspolitisches Bulletin Nr. 3/3/24

Am 14. Juni 2024 wird die heurige Fußball-Europameisterschaft eröffnet. Ganz Österreich bangt darum, ob David Alaba nach seiner Knieverletzung rechtzeitig fit wird. Die Wundheilung ist dabei nur ein Aspekt. Doch wird er rechtzeitig ins Training zurückkehren und bei Real Madrid noch Spielpraxis sammeln können?

Weniger Sorgen macht sich Österreich um Max Mustermann. Max Mustermann war Grundwehrdiener beim Bundesheer gewesen und hatte das Glück gehabt, eine sechsmonatige Ausbildung ohne Assistenzeinsatz absolvieren zu können. In der letzten Woche des GWD war er nochmals – nicht sehr eindringlich – gefragt worden, ob er sich zu Milizübungen verpflichten wolle. Die sechs Monate hatten ihm zwar recht gut gefallen, jedenfalls viel besser als zuerst erwartet, doch rasch war er sich gemeinsam mit seinen Kameraden darin einig, dass diese Verpflichtung bei den kommenden Vorstellungsgesprächen kein Vorteil sein würde.

Am Tag des Abrüstens, an den er sich wegen der Feier am Vorabend nicht mehr sehr gut erinnern kann, wurde er zum Gefreiten befördert, es wurde ihm die Wehrdienstmedaille in Bronze mit dem Aufdruck „Stets bereit“ verliehen, und er wurde darüber belehrt, dass er als befristet Beorderter in den nächsten Jahren zu einem Einsatz einberufen werden könnte.

Seit damals ist Gfr Mustermann Milizsoldat. Er ist Teil eines Bundesheers, das gemäß Verfassung nach den Grundsätzen eines Milizsystems einzurichten ist und das nach Mobilmachung aus 55.000 Soldaten besteht. Gfr Mustermann hat seit seinem GWD kaum Sport betrieben und beträchtlich an Gewicht zugelegt. Er kennt weder seine Kameraden noch den Kommandanten seiner Gruppe/seines Zugs/seiner Kompanie. Er hat sogar vergessen, dass er Milizsoldat ist. Trotzdem ist er Teil der „strategischen Reserve der Republik Österreich“.

Gfr Mustermann wird nicht Europameister im Fußball werden. Er wird nicht einmal Trainingsweltmeister in irgendeiner Disziplin werden – er trainiert nämlich gar nichts. Trotzdem würde er im Ernstfall in das österreichische Nationalteam für Landesverteidigung einberufen werden.

Gott schütze Österreich

Während sich Österreich Sorgen um David Alabas Fitness macht, ist ihm Gfr Mustermanns Bierbauch und die mangelnde Kampfkraft seines Milizverbands völlig egal. Wenn beim nächsten Ländermatch 55.000 Zuseher im Happel-Stadion sind, finden die VIPs auf der Ehrentribüne auch nichts dabei, dass diese Anzahl der Quantität des Bundesheers entspricht. Das Bundesheer muss damit eben „sein Auslangen finden“, wie der Bundeskanzler in einem Interview meinte.

Wenige hundert Kilometer entfernt tobt ein Krieg, bei dem nach Aussagen des ukrainischen Präsidenten in zwei Jahren 31.000 Soldaten der Ukraine gefallen sind. In der EU wird bei einem Sieg Russlands über die Ukraine eine Ausweitung des Konflikts auf Moldawien, Georgien, die Arktis und das Baltikum befürchtet. Es wird eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen Russland und der EU/NATO innerhalb von fünf bis acht Jahren für möglich gehalten. Im Jänner 2024 warnte Schwedens Regierung die Bevölkerung vor einem möglichen Krieg und rief zur Vorbereitung auf. „Eine Regierung sollte natürlich klar sprechen – alles andere wäre unverantwortlich“, sagte der schwedische Premierminister Ulf Kristersson.

Hätte Österreich 2014 nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim die 10-jährige Vorwarnzeit ausgelöst, dann hätte Österreich aktuell jenes Leistungsniveau, das jetzt mit dem „Aufbauplan 2032“ angestrebt wird: die Fähigkeiten für eine zeitlich und räumlich begrenzte Schutzoperation. Wir könnten uns dann in den nächsten fünf bis acht Jahren auf eine Abwehroperation vorbereiten. Stattdessen hat im Herbst 2014 der damalige Verteidigungsminister Gerald Klug im Auftrag von Kanzler Faymann mit seinem Konzept „ÖBH 2018“ das Bundesheer auf einen armseligen Rekonstruktionskern geschrumpft und die Sicherheit Österreichs auf dem Altar des Populismus geopfert.

Zehn Jahre später muss man diese Fragen stellen: Muss Österreich damit das Auslangen finden, dass es von einem übergewichtigen und untrainierten Gfr Mustermann und seinen Kameraden aus der Papier-Miliz geschützt wird? Müssen Gfr Mustermann und seine Kameraden damit das Auslangen finden, dass sie gegebenenfalls unvorbereitet in einen Einsatz gehen und ihre Gesundheit und das Leben riskieren müssen? Wer übernimmt die Verantwortung für die Folgen dieses Auslangenmüssens?

„Wahlkampf ist Zeit fokussierter Unintelligenz“

Dr. Michael Häupl, Bürgermeister Wien

Es war ein Wahlkampf, in dem die Verkürzung des Grundwehrdienstes auf sechs Monate und die Abschaffung der Truppenübungen angepriesen wurde. Es war ein Wahlkampf, in dem beinahe die Wehrpflicht geopfert worden wäre. Und es ist ein Wahlkampf, der heuer der Wiedereinführung der Truppenübungen im Wege steht.

Zwar hat die Bevölkerung bei der Volksbefragung 2013 sich mit deutlicher Mehrheit für die Beibehaltung der Wehrpflicht ausgesprochen. Allerdings verfestigte sich die falsche Ansicht, dass Wehrpflicht bloß die Ableistung des Grundwehrdienstes bedeutet. Es ist nämlich nicht nur die Wehrpflicht, sondern auch das Milizsystem in der Bundesverfassung verankert. Die Intention des Gesetzgebers ist in der Regierungsvorlage 498 aus 1988 nachzulesen:

„Gemeinsam ist ihnen (Anm.: den verschiedenen Milizsystemen) aber jedenfalls

  • eine Gestaltung der Schutz- und Verteidigungsvorkehrungen (zumindest überwiegend) nicht im Wege einer berufsmäßigen Institution, sondern als Gemeinschaftsaufgabe,
  • die Organisation der Verbände (zumindest überwiegend) nicht als ständig präsente Einrichtungen, sondern in einem nur zur Grundausbildung, zu Übungen und für den Einsatzfall gebildeten Präsenzstand sowie
  • die geistige Bereitschaft zur ständigen Mitwirkung an der Gemeinschaftsaufgabe der Verteidigung nach Maßgabe der jeweiligen individuellen Möglichkeiten.“

Demnach bedeutet Wehrpflicht im Sinne der Verfassung die Pflicht zur Ableistung des Grundwehrdienstes und die anschließende Milizverwendung samt Übungsverpflichtung.

Primat der Wirtschaft

Die „Mitwirkung an der Gemeinschaftsaufgabe der Verteidigung“ nimmt natürlich auch die Wirtschaft als Arbeitgeber der Übungspflichtigen in die Mitverantwortung. Und das ist auch gut so. Denn letztlich setzt wirtschaftliche Tätigkeit ein friedliches Umfeld voraus. 2022 ist das BIP der Ukraine um ca. 30% eingebrochen. Jedes Unternehmen muss daher ein vitales Interesse an Sicherheit haben.

Durch das gegenwärtige Prinzip der Freiwilligkeit der Ableistung von Übungen haben Milizsoldaten in Bewerbungsprozessen einen Nachteil, da die Arbeitgeber die zusätzlichen Fehlzeiten nicht tragen wollen. Daher verschweigen viele Milizsoldaten ihre Verpflichtung als „Bürger in Uniform“. Statt für ihren Einsatz für das Gemeinwohl Anerkennung zu erhalten, opfern sie ihren Urlaub. Das erfordert nicht nur viel Idealismus, sondern belastet auch Familien, die ihre Urlaubszeit wohl anders verbringen wollen.

Die Folgen sind klar erkennbar: Immer weniger Grundwehrdiener verpflichten sich zur Miliz. Die Miliz-Kadersoldaten, die über viele Jahre die Stellung gehalten haben, sind müde geworden, die Versprechungen und Ankündigungen in den politischen Sonntagsreden zu hören. Der Zulauf zur Kaderausbildung ersetzt bei Weitem nicht die altersbedingten Abgänge im Bereich der UO/O (Anm. Web-Redaktion: Unteroffiziere/Offiziere). Manche sagen daher „die Miliz stirbt“, die meisten sagen „die Miliz ist tot“. Aber müssen die Milizsoldaten einzeln gegenüber ihren Arbeitgebern jenen Kampf führen, den Bundesregierungen seit zwanzig Jahren nicht bereit sind zu führen?

Die „Geistige Landesverteidigung“ ist nicht nur an den Schulen gescheitert. Sie ist vor allem im Parlament und in der Regierung gescheitert, wo parteipolitischer Eigennutz zu „fokussierter Unintelligenz“ eskaliert. Ich will damit nicht mein Auslangen finden.

Mag. Erich Cibulka, Brigadier
Präsident der Österreichischen Offiziersgesellschaft

Dieser Brief des Präsidenten wurde im „Offizier 1/2024“ veröffentlicht. Die elektronische Version finden sie hier zum Download und hier zum Blättern!

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