Wehr- und Sicherheitspolitisches Bulletin Nr. 7/6/23
Den Satzbeginn „Stell dir vor, es ist Krieg“ können viele Menschen gleich ergänzen: „Und keiner geht hin.“ Dieses Lieblingszitat der Friedensbewegung im 20. Jahrhundert sollte die Bestrebungen jener Bewegungen unterstützen, die Krieg und Kriegsrüstung aktiv verhindern und den Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ausschließen wollten. Der substanzielle Gehalt dieser Forderung entspricht in etwa dem Realitätssinn eines Wunsches, keine Steuern mehr zahlen zu wollen, weil man dann mehr im Geldbörserl hätte. Gut informierte Zeitgenossen können das Zitat auch noch fortsetzen und ergänzen des Weiteren mit: „Dann kommt der Krieg zu euch! Wer zu Hause bleibt, wenn der Kampf beginnt, und lässt andere kämpfen für seine Sache, der muss sich vorsehen: Denn wer den Kampf nicht geteilt hat, der wird teilen die Niederlage. Nicht einmal Kampf vermeidet, wer den Kampf vermeiden will, denn es wird kämpfen für die Sache des Feindes, wer für seine eigene Sache nicht gekämpft hat.“ Zugeschrieben wird der Spruch dem deutschen Dramatiker und Lyriker Berthold Brecht, jedoch ist die Herkunft und Zusammenstellung zumindest des Beginns umstritten. Gleich zwei amerikanische Schriftsteller könnten für die Wunschvorstellung „Stell dir vor …“ bis „… geht hin“ Pate gestanden sein. Die Feststellung, dass der Krieg „dann zu euch kommt“ scheint allerdings mit unbekannter Urheberschaft völlig frei erfunden zu sein. Im Kontext der weiteren Ausführungen bezüglich das Kampfes – nun wirklich Copyright Brecht – besteht allerdings Klarheit darüber, dass Brecht den Klassenkampf der Arbeiter gemeint hat und nicht den Krieg zwischen Nationalstaaten.
Warum wird das Thema hier aufgegriffen? Machen wir doch gemeinsam einen Reality-Check, also eine Überprüfung, inwieweit die Aussagen Richtigkeit haben oder eben nicht. Die erste Aussage, „Stell dir vor es ist Krieg und keiner geht hin“ muss angesichts der Millionen von Kriegstoten weltweit als inakzeptabler Zynismus zurückgewiesen werden, der eben der Realität nicht standhält. Will man jetzt womöglich die zwangsweise einberufenen Soldaten moralisch verurteilen, weil sie den jeweiligen Einberufungsbefehl befolgt haben? Was sagen wir den Eltern der Gefallenen? Sie hätten ihre Kinder nicht gehen lassen sollen? Von den derzeit in kriegführenden Staaten stattfindenden Schauprozessen gegen Wehrdienstverweigerer mit „nur“ Gefängnisurteilen ist es nur ein kleiner Schritt zur Todesstrafe, wenn es als erforderlich beurteilt werden würde.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, es geht nicht darum, Kriege gut zu heißen, es geht lediglich darum, sich nicht durch pazifistische Utopien den Blick für die Realitäten verstellen zu lassen. Es geht um die Babyboomer- Generation, die unter dem Einfluss von Woodstock und „Give peace a chance“ den vermutlich ehrlich gemeinten Ansatz verfolgte, durch Abrüstung und Abwertung des Militärs Frieden zu bewirken. Nur fand das eben nicht überall statt und es entstand ein Ungleichgewicht. Das dabei auch machtpolitische Interessen potentieller Gegner dahinter stecken könnten, wurde gekonnt ignoriert. Beim Marsch durch die Institutionen ist die Babyboomer-Generation in Europa Anfang der 2000er-Jahre in den Top-Positionen angelangt, setzt auf Wandel durch Handel, setzt auf Gewinnmaximierung und Entwaffnung des Militärs, jener Institution, die die Verfassungen als ultima ratio für alle Fälle gedacht haben, und übersieht, dass das aber den Grundsätzen einer Sicherheitspolitik widerspricht. Die Welt ist nicht so, wie wir sie gerne hätten, sie funktioniert nach anderen Regeln und wer diese ignoriert, wird die Zeche bezahlen müssen. Die Regeln sind macht- und interessensgetrieben und unterliegen keinem Wunschdenken. Hindernisse, die den Interessen in die Quere kommen, werden aus dem Weg geräumt. Vielleicht ist die „letzte Generation“ am richtigen Weg, Fehler der Vergangenheit aufzuzeigen, aber dabei sollte auch die Sicherheitspolitik eine Rolle spielen, nicht nur die Umweltpolitik, sonst trifft sie die gleiche Schuld wie die Babyboomer: es nicht besser gemacht zu haben.
Dieser Wächter wurde im „Offizier 2/2023“ veröffentlicht. Die elektronische Version finden sie hier zum Download und hier zum Blättern!